„Selbstbestimmt“ von Geri F. Jones
Nach einer unfreiwilligen 15-jährigen Auszeit kehrt Kommissar Ronald Gratzer in den Dienst zurück und wird beauftragt, den mysteriösen Tod von Adam Osric aufzuklären. Osric, ein todkranker Mann, stürzte mitten in der Stadt vom imposanten Vindobona-Tower in die Tiefe. Seine letzten Jahre waren geprägt von einer Mischung aus Leid, Hoffnung und schierer Verzweiflung. Ein klarer Fall von Selbstmord? Auf den ersten Blick ja, doch bald tauchen Zweifel auf. Als Gratzer tiefer gräbt, stößt er auf das extrem teure Wundermedikament »Gedican«. Könnte dieses Medikament mit Osrics tragischem Ende in Verbindung stehen? Seine Ermittlungen führen ihn in die undurchsichtige Welt der Pharmaindustrie, wo der Verlust eines bedeutenden Patienten bedauert, eine echte Aufklärung der Umstände jedoch wenig begrüßt wird.
Leseprobe
Diesmal war es wirklich kein schöner Anblick – dabei war es gar nicht der Fundort an sich, unterhalb des Vindobona-Towers im 2. Wiener Gemeindebezirk. Und auch die kleinen Frostkristalle an der Leiche störten Thomas Deussner nicht, der ruhig und sorgfältig alle Details dokumentierte und Fotos aus jedem Winkel machte.
Im Gegenteil, Thomas mochte winterliche Tatorte, die Kälte erleichterte ihm den Blick auf die Gesamtsituation, sie ließ ihn fokussieren, nicht in unwesentliche Kleinigkeiten abdriften und vor allem konservierte sie den Moment, an dem der Tod eintrat. Hitze hingegen, gepaart mit hoher Luftfeuchtigkeit, verdirbt alles, sie lässt die Leiche mit Bakterien überwuchern, die wiederum jegliche Statik zerstören und allem ihre eigene Dynamik aufdrängen. Vom Geruch ganz zu schweigen.
Hier konnte Thomas aber förmlich spüren, wie der Körper nach einem Sturz aus zirka 20 Metern Höhe am Asphalt aufgeprallt sein musste, wie das Genick gebrochen war und die Schädeldecke zerbarst. Den Hämatomen nach zu urteilen, musste es aber auch mehrere innere Organe zerrissen haben, die Milz war sicher geplatzt, wahrscheinlich ebenso die Leber und zumindest die rechte Niere.
Thomas Deussner, Gerichtsmediziner der Wiener Kriminalpolizei, war ein hagerer, ruhiger, vernunftbetonter Mittvierziger mit blonden Haaren und brauner Hornbrille, und er hatte es sich zur Maxime gemacht, nie persönliche Gefühle bei einem Leichenfund zuzulassen. Ein Bauchgefühl hingegen, oder »Gespür«, wie er es bezeichnete, hatte er aber sehr wohl im Laufe der Jahre entwickelt. Und dieses Gespür sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte.
Nicht dass ihn die Intensität der Verletzungen überrascht hätte, davon versuchte er sich nicht ablenken zu lassen. Ähnliche Bilder war er von Selbstmördern gewohnt, die sich vor Züge oder U-Bahnen geworfen hatten. Er wollte vielmehr ein Gefühl dafür bekommen, ob dieser Mann von sich aus vom 8. Stock gesprungen war, oder ob jemand nachgeholfen hatte.
Die Lage und die Position der Leiche halfen ihm hier nicht – manchmal war der Körper viel zu weit vom Gebäude entfernt, als dass es ein Selbstmord sein konnte, denn so viel Impuls bekam ein Körper nicht, wenn man sich bloß selbst fallen ließ. Aber hier, nach einem Sturz aus dieser Höhe, war dies alles bloße Spekulation.
»Na gut«, meinte Thomas zu seinen Kollegen, »lasst mich ein letztes Übersichtsfoto machen und dann packen wir ihn ein und bringen ihn ins Institut, bevor wir hier selbst noch anfrieren …«
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Selbstbestimmt
Kriminalroman von Geri F. Jones
Taschenbuch, 176 Seiten, € 13,90 (A)
ISBN 978-3-99074-283-9