„Wer zuletzt lacht“ von Roland Luft

1. Zwei Menschen befinden sich in einem Raum.
2. Einer stirbt einen Tod, der
verursacht worden sein musste.
3. Eine der beiden Personen kann sich nicht rühren.
Schluss: Also muss die zweite Person der Verursacher dieses Todes sein.
Doch nichts ist so, wie es scheint.

In der Psychiatrischen Klinik in Linz wird der bewegungsunfähige Anton Pointner ermordet, offensichtlich von seinem langjährigen Freund Clemens Baumgartner. Denn zur Tatzeit war sonst niemand im Raum. Ein Fall für Chefinspektor Buchinger, der komplizierte Fälle liebt. Und tatsächlich: Je tiefer Buchinger in den Fall eintaucht, desto mehr Fragen kommen hoch. Ein Krimi, der philosophischen Fragen nachspürt – vor allem dem Verhältnis zwischen Schein und Sein.

Leseprobe

Er betrat die Psychiatrische Klinik und alles war wie erwartet: die Ziersträucher, der Geruch nach schalem Kaffee, beruhigend-freundliche Bilder an den weißen Wänden, alles schrie förmlich nach Alltäglichem, nach Normalität, nach Unbeschwertheit. Man gab sich große Mühe, den Anschein von Unauffälligkeit und Unbedenklichkeit zu erwecken. Nur dass kein Schwein auf diese Lüge reinfiel. Auch wenn das Krankenhaus seit einiger Zeit einen komplizierten und modernen Namen trug, für die Linzer würde es immer Niedernhart, das Wagner-Jauregg-Krankenhaus, die Irrenanstalt bleiben.
Sogar kleine Kinder schreien schon, wenn sie die abgestandene Frische der unlängst gewischten Fußböden riechen – Vorsicht Rutschgefahr! – und wenn sie in Gesichter schauen, die sich nicht entscheiden können zwischen Hektik, Überheblichkeit und aufgesetzter Höflichkeit.
Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, schnell, mit elastischem Schritt. Falls ihn jemand erkennen sollte, dann sollte niemand glauben, er sei wegen einer Krankheit hier. War eh nicht sehr wahrscheinlich, dass sich von den hier gestrandeten Existenzen auch nur eine Person ins Theater oder in die kleinen Programmkinos verirren würde. Eher unwahrscheinlich.
Clemens Baumgartner war hier in Linz alles andere als ein Unbekannter. Schauspieler im hiesigen Landestheater, erfolgreicher und umjubelter Darsteller von Nebenrollen in heimischen Low-Budget-Filmen, Verfasser einer Autobiografie, extravagant in Erscheinung und Auftreten. Heute: rote Hose, schwarze Schuhe mit weißen Galoschen, ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd, darüber ein graues Gilet, ein Panamahut. Vor allem, am auffälligsten: ein Schnurrbart, ästhetisch irgendwo zwischen Clark Gable und Freddie Mercury. Dieser Oberlippenbart stand für vielerlei: für eine Unabhängigkeit von Zeitgeist und Mode, für eine Verliebtheit in die Vergangenheit, für Individualität und Unverwechselbarkeit. Mit einem Wort: Baumgartner war eine Größe, wenn auch nur 1,70 m klein. Ihn treffen, vielleicht sogar grüßen zu dürfen, wäre eine Ehre. Er wusste das. Und er zeigte das auch. Seine tänzelnden Schritte markierten eine Leichtigkeit, ja beinahe Abgehobenheit gegenüber den Angelegenheiten der Durchschnittsmenschen. Kein Wunder also, dass er jederzeit damit rechnete, ja rechnen musste, erkannt zu werden.
Auf Station B1 kannte man ihn natürlich, klar, er kam ja einmal in der Woche, hatte Schwester Linda bereits zwei Mal auf den Po gegriffen. Schwester Rita hatte daraufhin »Me too, me too!« gerufen, er hatte Fotos von sich mit Autogramm verteilt und Tickets für eine Herbstaufführung von Ibsens Nora. Erst bei genauem Hinsehen bemerkte man, dass es sich um die billigsten, nämlich Stehplatzkarten handelte. Er schaute kurz bei den Schwestern rein, sagte: »Schwester Linda nicht da?«
»Die hat Frühdienst, kommt erst morgen wieder.«
»Na, wie wär’s mit uns beiden, Rita?«, war seine Antwort, die wirklich niemanden überraschte. Und tänzelte seines Weges in Richtung Zimmer 123.
Mit Schwung öffnete er die Tür zum Krankenzimmer, schloss sie sachte und postierte sich vor dem Patienten von 123 wie vor dem Premierenpublikum des Linzer Landestheaters. Verbeugte sich kurz, legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Zimmerdecke, wo rein gar nichts zu sehen war, breitete seine Arme aus wie die Christusstatue von Rio, als ob er den Segen Gottes erwartete, und sprach mit Enthusiasmus.
»Sei gegrüßt, mein Freund! Ich besuche dich heute zum letzten Mal!«

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Wer zuletzt lacht
Philosophischer Kriminalroman von Roland Luft
TB, 238 Seiten, € 12,90 (A)
ISBN 978-3-99074-115-3

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