„Tödliche Sprichwörter“ von Michael Koller

Suzanne und Michel De Colle kommen bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Der Schock sitzt bei ihren Kindern Luc und Julie tief. Aber nach der ersten Erschütterung über den schmerzlichen Verlust folgt bald ein schlimmer Verdacht. Denn zwischen den Hinterlassenschaften ihrer Eltern finden Luc und Julie brisante Dokumente, die den Unfall in ein neues Licht rücken – ein Licht, das auf ein Verbrechen deutet. Doch die Polizei zeigt kaum Interesse, den Fall zu verfolgen. Entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, beschließen die Geschwister, auf eigene Faust zu ermitteln. Während sie tief in die Vergangenheit ihrer Eltern eintauchen, stoßen sie auf ein Netz aus Lügen, Intrigen und dunklen Machenschaften. Und als sie endlich eine konkrete Spur zu finden glauben, erkennen sie, dass sie nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen mächtige Gegner kämpfen.

Leseprobe

Resurecturis! In großen, schwarzen Lettern stand dieses Wort über dem versperrten Eingang zu einer kleinen Gruft geschrieben, die von einer mit Grünspan überzogenen, kupfernen Kuppel bedeckt war.
Auferstanden! Was für ein leeres Pathos, dachte Luc bei sich, als er mit seiner Schwester Julie unterm Arm und Tränen in den Augen einen letzten Blick auf den Friedhof warf. Es war ein kalter, trostloser Dezembertag. Der unter ihren Füßen knarrende Schnee lag wie weißes Leinen über den steinernen Gräbern, deren glatt polierte Platten darunter verborgen blieben. Genauso wie die Menschen, die man zur letzten Ruhe hierher verbracht hatte. Die langsam, aber stetig in der Erde vor sich hin rotteten. Ihre Eltern hatten eine Feuerbestattung vorgezogen und so war ihre Asche in einer schlichten Nische im Urnenhain eingestellt worden. Was für ein klägliches Ende. Nichts war übrig geblieben außer einem Häufchen Ruß in einem schmalen Gefäß. Gerade so groß, um einen bescheidenen Strauß Blumen darin etwas Wasser zu spenden.
Luc ließ seine Blicke über die Grabsteine vor ihm wandern, die aufgereiht wie Zinnsoldaten akkurat in Reih und Glied angeordnet waren. Viele der Familiennamen, die man darauf lesen konnte, waren ihm geläufig. Manche vielleicht mehr, als ihm lieb war. Doch in diesem Moment waren alle Erinnerungen verblasst und von einer unsäglichen Trauer überlagert. Julie hatte sich bislang gut gehalten, doch plötzlich spürte ihr Bruder, dass ihre Knie nachgaben. Er fing sie gerade noch auf und brachte sie zu einer Bank, die direkt an der Friedhofsmauer stand. Notdürftig wischte er die darauf liegende Schneeschicht von der Sitzfläche ab. Ihre langen Mäntel würden sie auch so ausreichend schützen. Julie klammerte sich schluchzend an ihn. Vergrub ihr braunes, langes Haar in seiner Brust. Sie hatten seit gut einer Stunde kein Wort mehr gesprochen. Weder bei der kurzen Trauerfeier vor den Urnen ihrer Eltern noch bei den anschließenden Beileidsbekundungen, die sie als engste Hinterbliebene entgegengenommen hatten.
Hernach waren die beiden noch eine ganze Weile alleine bei den Überresten ihrer Eltern verblieben. Die Ruhe, die dabei einkehrte, hatte Julie apathisch werden lassen. Doch nun ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Luc zog sie ganz nah zu sich, streichelte über ihren Kopf und schwieg weiter. Kein Wort war geeignet auszudrücken, was er empfand. Was sie empfand. Es war, als stünde die Zeit still, die Welt still. Und so war es auch.
Die Welt stand still. Zumindest in ihren Herzen. Anderswo mahlten die Mühlen weiter. So, wie sie immer weitermahlten. Bis es nichts mehr zu mahlen gab. Doch anderswo war nicht hier.

Auch als e-book erhältlich
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Tödliche Sprichwörter
Kriminalroman von Michael Koller
Taschenbuch, 189 Seiten, € 13,90 (A)
ISBN 978-3-99074-282-2